Ein Viertel versinkt im Terror

Ein Viertel versinkt im Terror

Dieser Bericht basiert auf einem Gespräch, das algeria-watch mit einem algerischen Flüchtling führte und macht deutlich, daß die übliche Kategorisierung der algerischen Flüchtlinge (Kader und Sympathisanten der FIS, Deserteure und von bewaffneten islamistischen Gruppen bedrohte Personen) die komplexe Gefahrenlage in Algerien nicht zu erfassen vermag.

Ich, Miloud, bin 28 Jahre alt und im April 1996 nach Deutschland geflohen. Ich komme aus der weiteren Umgebung von Algier, aus einer sogenannten « sehr heißen Zone ». Ich möchte nicht sagen, woher ich komme, denn es ist ein kleiner Ort und vielleicht werde ich wiedererkannt. Ich kann im Moment nicht nach Algerien zurück, da meine Familie ihr Haus und das Viertel verlassen mußte, und ich bedroht bin. Ich werde an dieser Stelle versuchen zu erklären, wie sich die Dinge für mich dargestellt haben und warum ich gezwungen war, mein Land zu verlassen. Es ist für Menschen, die hier leben, sicherlich schwer nachzuvollziehen, welche Art von Krieg in Algerien herrscht. Selbst wir haben Mühe zu verstehen, was eigentlich geschieht, da sich hinter den Bezeichnungen der Protagonisten, nicht immer diejenigen verbergen, die man erwartet.

Ich lebe in einer Gegend, die als entferntere Vorstadt Algiers bezeichnet werden kann. Es ist eine Region, die aus kleinen Gemeinden mit städtischem Charakter besteht, in der auch kleine Wälder und Felder die bebauten Zonen auflockern.

Seit meiner Kindheit, in den siebziger Jahren, verkehre ich in sogenannten islamistischen Kreisen. Heute nennt man diese Leute so, damals nannte man sie « die Brüder ». Es waren junge Leute, die in einem islamischen Rahmen aktiv waren, für eine Moralisierung der Gesellschaft eintraten und dafür, daß jeder Bürger sich für die Gesellschaft einsetzt und verantwortlich fühlt. Es ging darum, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen, d.h. auch, daß alle die gleichen Chancen haben sollten.

Damals gab es keine Partei und ich bin auch später in keine Partei eingetreten. Ich war dann in der Oberstufe und an der Moschee unseres Viertels aktiv. Diese Moschee hatten wir 1987 selbst gebaut. Wir machten regelmäßige Sitzungen, wo wir über religiöse Fragen debattierten und natürlich auch über aktuelle Probleme. Später, nach dem Abbruch der Wahlen 1992, trafen wir uns immer noch in der Moschee, aber nur zu bestimmten Uhrzeiten und sprachen kaum über die Lage im Land.

Ich selbst machte Abitur und mußte den Militärdienst zwischen 1990 bis 1992 antreten. Mitte Juni 1992 kam ich zurück. Als ich von der Armee entlassen wurde, mußte ich beim militärischen Sicherheitsdienst (sécurité militaire) ein Papier unterschreiben. Ich verpflichtete mich, keiner Partei beizutreten und an keiner Demonstration teilzunehmen.

Es hatte sich sehr viel verändert: Die Islamische Rettungsfont (FIS), die die Wahlen im Januar 1992 gewonnen hätte, wurde verboten und ihre Mitglieder verfolgt. Auch in unserer Gegend waren sehr viele verhaftet worden. Die Lage war von großer Unsicherheit geprägt und alle Aktivitäten an Moscheen und anderswo waren gestoppt worden.

In den Jahren 1992-1993 bildeten sich bewaffnete Gruppen, die Menschen ermordeten, die der Zusammenarbeit mit dem Regime beschuldigt wurden. Die Bevölkerung hat sich für diese Morde nicht sehr interessiert und sie eher akzeptiert, da es sich beispielsweise um Sicherheitskräfte oder Angehörige der Armee handelte. Die Täter wurden als Islamisten bezeichnet und sie waren der Bevölkerung bekannt. Es waren Leute aus unserer Gegend, die, weil sie verfolgt wurden, gegen das Regime Krieg führten.

In den Jahren 1994-1995 änderte sich das Bild. Die Männer, die zu den Waffen griffen, waren uns immer weniger bekannt. Wir wußten nicht, wo die FIS-Mitglieder aus unserer Gegend, die im Untergrund aktiv waren, sich befanden: manche gingen in die Berge, von anderen hörten wir, daß sie getötet worden waren, wieder andere waren festgenommen worden oder verschwunden. Es wurden immer mehr Menschen getötet, von denen wir nicht wußten, warum. Die Morde wurden immer willkürlicher. Für uns war klar, daß es keine FIS-Leute waren, sondern Extremisten, von denen manche aus Afghanistan kamen. Jetzt sprachen die Leute von den GIA (groupes islamiques armés) und von « Hijra wa Takfir ». (1) Die meisten stammten auch nicht aus unseren Vierteln, manche allerdings waren uns als Kriminelle bekannt, als Männer, die sich nie für religiöse Belange interessiert hatten und die jetzt im Namen der Religion den Kampf führten.. Die Bevölkerung distanzierte sich von ihnen. Diese bewaffneten Männer kontrollierten die Gegend, indem sie Straßensperren errichteten und entschieden, wer durchfahren durfte, wer Geld zu entrichten hatte, wer ermordet werden sollte. Sie hatten Listen mit Namen, auch Namen von Männern, die den Militärdienst absolviert hatten oder diesen antreten mußten. Sie haben die Leute aus den Häusern herausgeholt und liquidiert. Sie konnten sich frei bewegen, obwohl die Gendarmerie und die Militärkaserne in unmittelbarer Nähe waren. Genau das haben wir nicht verstanden. Die GIA-Männer waren gar nicht so zahlreich, herrschten aber über unsere Gegend: sie traten öffentlich auf, stolzierten mit ihren Waffen herum, setzten die Menschen unter Druck, verordneten das Kopftuch und verboten z.B. den Französischunterricht an Schulen. Später schlossen sogar die Schulen, da sie immer öfter angegriffen wurden. Im Gymnasium wurde mehrmals Feuer gelegt. Drei Monate lang waren die Schulen geschlossen.

Wenn die Männer der GIA über unsere Viertel herrschten, waren die Sicherheitskräfte verschwunden. Doch zu manchen Tageszeiten waren Gendarmen und Soldaten sehr wohl präsent. Der Chef der Gendarmerie z.B. bewegte sich frei durch die Straßen, ohne daß ihm etwas zugestoßen wäre. Die Sicherheitskräfte haben häufig Durchkämmungsoperationen durchgeführt. Aber sie sind nicht gegen GIA-Leute vorgegangen, sondern gegen uns junge Männer. Sie haben Leute inhaftiert und gefoltert. Manche sind auch nicht mehr zurückgekommen. Zwei Freunde von mir sind von den Gendarmen verhaftet worden. Ich habe dann auch befürchtet, daß sie mich abholen. Deswegen habe ich mich oft woanders aufgehalten. GIA-Mitglieder haben Freunden von mir eine Liste mit 11 Namen gezeigt, darunter auch meinen. Diese Leute sollten in die Berge gehen. Das war Ende 1994. Wir haben uns dann immer öfter gefragt, ob die Gendarmerie und die GIA nicht zusammenarbeiten: die einen terrorisieren uns, damit wir in die Berge gehen, die anderen sperren uns in Folterkeller ein. Immer weniger verstanden wir, was geschieht. Wir ahnten aber, daß alles miteinander zusammenhing.

Uns wurde nahegelegt, eine Kommunalgarde zu gründen. Andere Kommunen in unserer Gegend haben im Laufe der Zeit auf Druck der Gendarmerie Garden gebildet. Auffällig war, daß sobald eine Kommunalgarde gegründet wurde, die GIA-Männer verschwunden waren. Die anderen Kommunen haben auch Druck auf uns ausgeübt, sogar die Moschee wurde geschlossen, aber wir haben es abgelehnt, eine Miliz zu bilden. Wir sind ein ganz kleines Viertel mit etwa 250 Personen. Wir wollten uns aus allem raushalten, weder mit den einen, noch mit den anderen zusammenarbeiten. Das durften wir aber nicht. Weil wir keine Miliz hatten, wurden wir verdächtigt.

Eines Nachts kam ein LKW in unser Viertel. Es waren Angehörige der Republikanischen Garde. Sie traten sehr brutal auf und nahmen manche von uns fest. Der Druck erhöhte sich immer mehr: Z.B. kam ein Mann zu uns ins Viertel, der in Kontakt mit der GIA stand. Die Kommunalgarde von unserem Nachbarviertel hat dies gewußt und der Gendarmerie Bescheid gegeben. Spätestens ab diesem Zeitpunkt galten wir als Terroristen. Es kam noch schlimmer: keiner von außen durfte mit uns in Kontakt treten und bald wurden wir auch umzingelt und durften nicht unser Viertel verlassen. Ende 1995 sind Leute von der GIA zu meinem Vater gekommen und haben ihm gesagt, ich sollte in die Berge gehen. Da bin ich geflohen. Zuerst zu meinem Großvater in Algier und dann nach Deutschland, solange meine Papiere noch gültig waren.

Doch die Geschichte geht weiter. Zehn Monate etwa nachdem ich geflohen war, sind die GIA-Leute in das Viertel südlich des unseren gekommen und haben Freunde von mir getötet. Bis dahin war noch niemand in diesem Viertel ermordet worden und dementsprechend gab es dort auch keine Kommunalgarde. Meine Familie wollte weiterhin nicht hineingezogen werden, doch in der einen oder anderen Weise wird jeder in diesen Krieg hineingezogen,

Kurz darauf fand etwa 800 Meter südlich von unserem Viertel ein Massaker statt: 17 Tote. Überlebende hatten über den Lautsprecher der Moschee nach den Gendarmen gerufen, aber niemand ist in der Nacht gekommen. Am nächsten Tag, als die Sicherheitskräfte eintrafen, sagten sie den Überlebenden, sie würden von ihren eigenen Kindern massakriert und sie sollten sich bewaffnen. Meine Familie floh, wie viele andere auch, in Slums weiter nördlich in Richtung Algier. Die Gendarmen hatten nach mir gesucht und meinen Bruder mitgenommen. Drei Tage blieb er bei ihnen. Er sagte ihnen zwar, ich sei in Deutschland, doch sie glaubten ihm nicht und wollten einen Beweis dafür haben.

Unser Viertel ist nun leer. Den Bewohnern wird zwar nahegelegt zurückzukehren, doch sie haben Angst. Mein Vater hat seine Arbeitsstelle gekündigt und versucht, mit der Abfindung ein neues Haus zu bauen.

(1) Kleine extremistische Gruppierung, die die gesamte algerische Gesellschaft als nicht-muslimisch deklariert (takfir) und von daher die Notwendigkeit einer erneuten Auswanderung (hijra) der « wahren Muslime » propagiert. In dieser Gruppierung spielen die sogenannten Afghanen eine besondere Rolle. Als « Afghanen » werden zurückgekehrte Kriegsfreiwillige bezeichnet, die aus verschiedenen Ländern stammen und nach Afghanistan aufgebrochen sind, um dort am Krieg teilzunehmen. Dies geschah zum Teil mit der Unterstützung der jeweiligen Staaten. Diese « Kämpfer » wurden in Pakistan – nicht zuletzt durch den CIA militärisch und mit saudischer Hilfe ideologisch – ausgebildet. [Anm. v. algeria-watch]

 

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