Algeria-Watch: Abdelkader Tigha, Ex-Geheimdienstmitarbeiter, packt aus

Abdelkader Tigha, Ex-Geheimdienstmitarbeiter, packt aus

Algeria-Watch, Januar 2003, Infomappe 22

A. Tigha war bis zu seiner Flucht aus Algerien im Dezember 1999 beim algerischen Geheimdienst (DRS: Département du Renseignement et de la Sécurité) tätig. Von 1993 bis 1997 war er Brigadechef im CTRI (Centre territorial de recherche et d’investigation) von Blida, einem der bekanntesten Folterzentren Algeriens, das von Oberst Djebbar M’henna geleitet wurde.

Ende 1999 floh Abdelkader Tigha aus Algerien nach Syrien, um von dort aus Asyl in einem sicheren Land zu suchen. Er wandte sich an die französische Botschaft in Damaskus, die ihn nach Thailand schickte, um dort von drei Agenten des französischen Auslandsgeheimdienst (DGSE) verhört zu werden. Diese hielten ihr Versprechen, ihn in Sicherheit zu bringen, nicht ein, und als sein Visum abgelaufen war, landete er in Bangkok im Immigration Detention Center, von wo aus er seit zwei Jahren verzweifelt versucht, in einem anderen Land Zuflucht zu finden, da die thailändische Regierung ihn nicht aufnehmen will. Bereits im Sommer 2001 machte er durch seine Enthüllungen auf sich aufmerksam. [1] Ende Dezember 2002 berichtete er gegenüber der Zeitung Libération über die Entführung und Ermordung der sieben Mönche von Tibhirin, die 1996 die internationale Öffentlichkeit geschockt hatte. Bis heute wurde dieses Verbrechen nicht aufgeklärt. Er behauptet, die algerische Sécurité Militaire sei in diese Sache verwickelt. (Algeria-Watch: Wer tötete die Mönche von Tibhirine, S. 7.)

Identifizieren, lokalisieren, liquidieren

Blida ist nicht nur die größte Garnisonsstadt Algeriens (erste Militärregion und höchste Konzentration an Soldaten und Infrastruktur), sondern war auch eine Hochburg der islamistischen Aktivitäten. Das CTRI hatte zur Aufgabe, die Sympathisanten der Islamisten, auch der GIA (Groupes Islamiques Armés), zu identifizieren, zu lokalisieren und zu vernichten. Hunderte von tatsächlichen oder angeblichen Aktivisten durchliefen dieses Zentrum, in dem sie verhört und gefoltert wurden. Von ihm brachen Kommandotrupps auf, um Verdächtige zu liquidieren. Tigha berichtet: « Sie schlossen die Polizeistationen, weil sie Angst vor Bomben hatten. Aber wir, wir waren die Schattenmänner, wir gehörten zu keinem offiziellen Dienst. Wir bewegten uns vor Ort mit nicht identifizierbaren Fahrzeugen und Autos. Nichts hat sich zwischen 1993 und 1997 geändert. Es war die gleiche Arbeit, es waren die gleichen Ziele und es waren die gleichen Hinrichtungen. Die Methode war immer die selbe: Man identifiziert, nimmt die Personen fest und tötet sie. Wenn jemand festgenommen wird, wird er auch heute ermordet, aber ein Szenario wird konstruiert. » [2]

Nach dem Abbruch der Wahlen bildeten Sympathisanten und Mitglieder der FIS die ersten bewaffneten Gruppen. Sie waren der Bevölkerung bekannt und erhielten von ihr Unterstützung. 1993 wurde die Region um Blida von diesen Gruppen weitgehend kontrolliert, während die Sicherheitskräfte nicht auf eine solche Situation vorbereitet waren und zurückgedrängt wurden.

Tigha berichtet, dass zu diesem Zeitpunkt die Tötungsmaschinerie in Gang gesetzt wurde: « Meine Dienststelle hatte den direkten Befehl von General Smaïl Lamari [Chef des DCE, Direction du Contre-Espionnage und Nummer zwei des algerischen Geheimdienstes DRS] erhalten, die Zahl der Personen, die vor Gericht gestellt werden zu reduzieren, d.h. die Festgenommenen zu liquidieren, um die Rekrutierung der GIA zu verringern und der Zivilbevölkerung Angst einzujagen… Die Hinrichtungen zielten zuerst auf die Bewohner der Dörfer und Siedlungen, die als Hochburgen der GIA galten (…), weil die GIA das Vertrauen der Bevölkerung dieser Region gewonnen hatten. » [3]

Tigha beschreibt die Festnahmen, Folterungen und Ermordungen, die nicht mehr vor Ort geschahen wie zu Beginn der Repression, sondern im Folterzentrum von Blida. Die Leichen wurden am frühen Morgen von der Kriminalpolizei oder dem Sondereinsatzkommando der Gendarmerie auf die Strassen geworfen. Um ihre Tat zu verbergen, wurde eine fiktive Organisation für diese Morde verantwortlich gemacht: OJAL (Organisation des Jeunes Algériens Libres). « In Wirklichkeit wurde diese Bezeichnung von Capitaine XX (Name von der Redaktion entfernt), dem Chefdenker im CTRI/erste Militärregion erfunden. Flugblätter von dieser Pseudo-Organisation wurden sogar an die Wände in der Stadt geklebt. » [4]

Das CTRI übernahm im Laufe der Jahre noch weitere Aufgaben. Dort wurde laut A. Tigha die Rekrutierung der ersten Milizen organisiert. Diese Milizen, deren Zahl niemand kennt (die Zahl von etwa 300 000 Milizionäre wird immer wieder angeführt), haben massiv zur Zuspitzung der Gewalt beigetragen, wobei ihre Übergriffe meist von der Armee gedeckt werden. Er berichtet in dem Zusammenhang, dass die erste Miliz, die von den Brüdern Sellami gegründet wurde, fast die gesamte Familie von Antar Zouabri (Chef der GIA von 1996 bis 2002) [5] ermordete und dass ihr Chef sich zwei Monate lang im CTRI von Blida versteckt hielt. Mohamed Sellami gründete 1994 in Boufarik die erste Miliz, die viele Islamisten und ihre Angehörigen ermordete. Sie scheute nicht davor zurück, alte Personen zu liquidieren, wie das Ehepaar Saïda und Tahar Bensous. [6]

GIA als bewaffnete Gruppe der Armee

Die islamistischen Gruppen konnten sich 1994 und 1995, trotz der massiven staatlichen Repression weiterhin auf die Bevölkerung stützen. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Einschleusungen von Geheimdienstagenten in den Maquis, die schließlich zur vollständigen Kontrolle mancher bewaffneter Gruppen führten. Tigha musste die Infiltrierungen, die von seiner Dienststelle ausgingen, überwachen. [7] Während er dieser Aufgabe nachging, erfuhr er einiges über die Entführung der Mönche von Tibhirin. Er berichtet, dass das CTRI die Gruppe von Djamel Zitouni, die für die Entführung der Mönche verantwortlich war, in ihrer Hand hatte. Am 24. März 1996 erschien Mouloud Azzout, die rechte Hand von Djamel Zitouni, im CTRI. Er übernachtete dort und traf am nächsten Morgen zwei Stunden lang mit Smaïn Lamari zusammen. Am Abend des 26. März verließen Militärs mit Azzout in zwei Fahrzeugen das CTRI und entführten die sieben Mönche, die später zum Sitz der GIA von Zitouni in Tala Acha gebracht wurden. Von dort aus hielt Azzout den Kontakt mit dem CTRI. [8]

Dass Zitouni vom Geheimdienst kontrolliert wurde, ist von Ahmed Chouchen bestätigt worden. Capitaine Chouchen, als Ausbilder in den Sondereinheiten tätig, verurteilte den Putsch und die darauffolgende Repression. Er wurde 1992 zu drei Jahren Haft verurteilt. Bei seiner Haftentlassung wurde er entführt und in das CPMI (Centre principal militaire d’investigation) von Ben Aknoun gebracht, eins der brutalsten Folterzentren Algiers. Dort wurde er vom Chef des militärischen Sicherheitsdienstes (DCSA, Direction centrale de la Sécurité de l’armée), General Kamel Abderrahmane, empfangen. Chouchen berichtet: « Ich war im Folterzentrum von Ben Aknoun, und der Generaldirektor sagte mir, dass Sicherheitsdienste beschlossen hätten, mich zu liquidieren, und dass ich ihnen nicht entkommen könnte. Meine einzige Chance sei mit ihnen zusammenzuarbeiten. (…) Man hat mir einen Liquidierungsplan von einigen Chefs der islamischen Partei vorgelegt. Sie haben mir ihre Namen genannt. Es handelte sich um Chefs, die untergetaucht waren: Mohamed SaÎd und andere. Ich sagte ihnen, dass ich nicht in kriminelle Pläne verwickelt sein wollte. Ich war bereit, mit ihnen zu kollaborieren und irgendeine Mission anzutreten, die eine algerische Versöhnung anstrebt. Ich war bereit, jeden zu kontaktieren für eine große Versöhnung. Ich habe ihnen gesagt, dass die Personen, die sie liquidieren wollten, Akademiker und politische Kader waren: Man könne mit ihnen verhandeln. Ich sagte, dass ich glaubte, dass die Personen, die gewaltsam bekämpft werden sollten, die Zitounis [9] seien, weil sie Kinder und Frauen töteten. (…) Oberst Bachir, Chef des Folterzentrums von Ben Aknoun, war an der Unterhaltung beteiligt. Er sagte mir: ,Lass Zitouni in Ruhe, er ist unser Mann, Du wirst mit ihm zusammenarbeiten.' » [10]

Die größten Massaker fanden im Sommer und Winter 1997 statt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass das Militär über die Opposition gesiegt hatte. Wer jemals mit der FIS sympathisiert hatte oder dessen Familienmitglied sich im Untergrund befand, wurde selbst zum potentiellen Terroristen und konnte von einer der zahlreichen Todesschwadronen, die sich als Islamisten gaben, umgebracht werden. [11]

Die Vertuschungsoperationen

Tigha berichtet weiter, dass ab 1996 « die Offiziere des DRS beginnen, sich vor dem internationalen Gericht zu fürchten ». Vor allem die Frage der Verschwundenen bereitete ihnen Sorgen, und sie suchten nach Auswegen, um ihre Verantwortung zu vertuschen. Tigha meint, dass Smaïn Lamari die « Zivile Eintracht » eingeleitet hätte, um den Verurteilungen, insbesondere von Amnesty International und der Opposition im Ausland, zu entgehen. [12] Die Vertuschungsoperationen dienten vor allem dazu, die Menschenrechtskommission der UNO mit falschen Dokumenten zu versorgen.

Tigha erhielt Ende 1996 den Auftrag, über zwei verschwundene Universitätsprofessoren zu recherchieren: G. Boularas und M. Rosli. Die Anfrage ging von der Menschenrechtskommission der UNO aus, was Tigha jedoch nicht bekannt war. Er stellte fest, dass beide Männer auf ihrem Arbeitsplatz festgenommen und zur Kriminalpolizei geführt worden waren, wo sie gefoltert wurden. Ihnen wurde Zusammenarbeit mit der GIA vorgeworfen. Beide wurden getötet, und ihre Leichen verbrannt. Tigha überreichte den Bericht seinen Vorgesetzten Anfang 1997. Kurz darauf musste er bei seinem Vorgesetzten vorsprechen und diesen Bericht rechtfertigen. Da verstand er, dass von ihm ein « falscher Bericht » erwartet worden war. Er galt jetzt als unsicheres Element und wurde nur noch mit Routinetätigkeiten betraut. Im August 1998 wurde er nach Algier versetzt. Seine Waffe wurde entwendet, er fühlte sich bedroht und beschloss zu fliehen. [13]

In den Händen der DGSE

Im Dezember 1999 beginnt seine Odyssee über Tunesien und Libyen nach Syrien. Dort begibt er sich zur französischen Botschaft. Ein Mann, der vorgibt, für politische Fragen zuständig zu sein, empfängt ihn. Tigha ist bereit, Informationen zu liefern unter der Vorraussetzung, dass er geschützt wird und in Europa politisches Asyl erhält. Ihm wird nahegelegt, nach Thailand weiterzureisen. Das Flugticket wird ihm bezahlt, und im Januar 2000 landet er in Bangkok. Dort wird er von den französischen Behörden luxuriös untergebracht und 10 Tage später von drei Mitgliedern des Auslandsgeheimdienstes (DGSE)verhört. Sie fotokopieren alle Unterlagen und nehmen seine Aussagen auf. In drei Sitzungen wollen sie von ihm Einzelheiten über die Netze des algerischen Geheimdienstes und der GIA erfahren. Sie interessieren sich besonders für einige brisante Angelegenheiten, vor allem den Mord an den Mönchen von Tibhirin im Mai 1996.

Tigha verlangt erst Garantien für sein politisches Asyl. Die drei Agenten erklären, dass Frankreich aufgrund seiner Beziehungen zu Algerien ihm keinen Schutz gewähren kann. Als Tigha erklärt, er könne auch nach Deutschland oder in ein anderes Land, antworten sie ihm: « Wenn Du getötet hast, wird Dich keiner annehmen, selbst Amnesty nicht. » Als klar ist, dass die Lage blockiert ist, entfernt sich einer von der Gruppe und führt ein Telefongespräch. Nach seiner Rückkehr bietet er Tigha für die Informationen, die er ihnen gibt eine große Summe Geld an. Tigha lehnt ab und beendet das Treffen.

Drei Monate später, als Tighas Visum abgelaufen ist, wird er von der thailändischen Polizei festgenommen und ins Immigration Detention Center von Bangkok gebracht. Er befindet sich in einem 200m2 großen Saal mit 150 Häftlingen. Manche sind dort schon seit Jahren eingesperrt. Tigha fühlt sich selbst an diesem Ort nicht in Sicherheit, denn er wird beobachtet, und die algerische Botschaft in Kuala Lumpur bittet tatsächlich die thailändischen Behörden, sie über alle Bewegungen Tighas außerhalb des Gefängnisses zu unterrichten.

Sein Asylgesuch beim UNHCR wurde bereits zwei Mal abgelehnt, da nach der Genfer Flüchtlingskonvention Personen, die unter dem Verdacht stehen, Verbrechen gegen die Menschheit begangen zu haben, vom Flüchtlingsstatus ausgeschlossen sind. Seit einem Jahr arbeitet das UNHCR daran, für Fälle wie den von Tigha eine juristische Lösung zu finden. In der Zwischenzeit droht ihm die Abschiebung nach Algerien. [14]




[1] Algeria-Watch, Infomappe 18-19, Januar 2002, Seite 61.

[2] Nord-Sud Export – n°427 – 21 septembre 2001, Algérie : Les révélations d’un déserteur de la SM.

[3] Idem.

[4] idem

[5] Nachdem Antar Zouabri die Führung der GIA mit Gewalt im Juli 1996 übernommen hatte, nahmen die Massaker an der Bevölkerung zu. Es wird immer deutlicher, dass Zouabri wie auch sein Vorgänger Djamel Zitouni im Interesse des Geheimdienstes agierten. Die GIA entwickelten sich zu einer Art Söldnerarmee: Sie führte einen blutigen Krieg gegen andere bewaffnete Gruppen, tötete ungenehme Persönlichkeiten und Militärs und beging zunehmend Massaker an der Zivilbevölkerung, um sie zu terrorisieren. Diese Strategie des Terrors zielte auf eine gewaltsame Befriedung der Bevölkerung, die Verhinderung jeglicher Revolten und die Distanzierung vom islamistischen Projekt.

[6] Algeria-Watch und Salah-Eddine Sidhoum, Liste der extralegalen Hinrichtungen, Algeria-Watch, 11. Januar 2001, < www.algeria-watch.org/mrv/2002/1100_executions/1100_executions_B.htm >

[7] Arnaud Dubus, Abdelkader Tigha lâché par la France, Libération, 23. Dezember 2002.

[8] Arnaud Dubus, Les sept moines de Tibehirine enlevés sur ordre d’Alger, Libération, 23. Dezember 2002.

[9] Djamel Zitouni war von September 1994 bis Juli 1996 Chef der GIA. Sein Nachfolger war Antar Zouabri. Weitere schwerwiegende Indizien, die deutlich machen, dass die Gruppe von Zitouni vom Geheimdienst kontrolliert und gesteuert wurde, zeigt der Dokumentarfilm – Attentats de Paris: On pouvait les empêcher – von Jean Baptiste Rivoire und Romain Icart zu den Anschlägen der GIA in Frankreich im Mai 1995. Die Untersuchung der zwei Journalisten, die u.a. auf Zeugnisse algerischer Militärs, aber auch französischer Kriminalbeamter und Richter basiert, kommt zu dem Schluss, dass diese Anschläge, für die Zitouni die Verantwortung übernahm, dazu dienten, Frankreich zu zwingen, sich auf die Seite der algerischen Generäle zu schlagen. (In dieser Infomappe befinden sich mehrere Artikel zu dem Dokumentarfilm, ab Seite 11 )

[10] Habib Souaïdia, Le procès de la « la sale guerre », La Découverte, Paris, 2002, S. 165-166. Siehe auch Algeria-Watch, Algerien: Die Junta vor Gericht, Infomappe 20-21, September 2002.

[11] Siehe zu den Massakern: Algeria-Watch, Infomappe 3 (Januar 1998) und 4 (April 1998).

[12] Das Gesetzt der « Zivilen Eintracht » wurde von Bouteflika im Juli 1999 verkündet, allerdings von den Militärs konzipiert. Dem gingen Verhandlungen voraus, die Smaïn Lamari mit der AIS geführt hatte und die den einseitigen Waffenstillstand der AIS und anderen Gruppen im Oktober 1997 mit sich brachten. Das Gesetz zur zivilen Eintracht bestand aus zwei Komplexen: der eine bot den « reumütigen » Mitgliedern von bewaffneten Gruppen an, sich innerhalb eines halben Jahres zu stellen und Strafminderung oder- freiheit zu erhalten, wenn sie keine Morde begangen hatten; der andere Komplex bot den Mitgliedern der Gruppen, die den Waffenstillstand unterzeichnet hatten, eine Art Amnestie, an. Siehe im Einzelnen: Algeria-Watch, Infomappe 10 (Oktober 1999) und Infomappe 11 (Januar 2000).

[13] NSE, op. Cit.

[14] Arnaud Dubus, Abdelkader Tigha lâché par la France, op. cit.